DIKo – „Der Islam“ in der Kontroverse
Projektleiter: Dr. Miguel Zulaica Y Mugica
Projektmitarbeiter*innen: Lisa Jesse (B.A.) und Meryem Aydogan (M.A.)
Zum Projekt
Mit dem Projekt „Der Islam“ in der Kontroverse soll ein Beitrag zur anwendungsorientierten Grundlagenforschung im Bereich Radikalisierung und Kontroversität basierend auf einem qualitativ ausgerichtetem Studiendesign geleistet werden. Gegenstand des Projekts sind islambezogene Kontroversen, die meist in der Alltagskommunikation implizit präsent sind (Zulaica y Mugica & Wigger 2024, Bossong et al. 2022), sich in Konflikten wie etwa dem Streit um einen Gebetsrau an vielen Schulen manifestieren, bei zeithistorischen Ereignissen wie dem Anschlag der Hamas am 07.10.23 (s. ufuq.de 2022) thematisch werden, aber auch zum Gegenstand des Unterrichtsgesprächs werden können. Auf der Grundlage der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) werden Diskursorganisationen (Przyborski 2004) von islambezogenen Kontroversen im Kontext von Gruppendiskussionen rekonstruiert, d. h. wir schauen uns an, wie schulische Akteur*innen (Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern) miteinander und getrennt voneinander über entsprechende Kontroversen diskutieren, welche Normalitätsvorstellungen und Differenzkonstruktionen verwendet werden und welche Triggerpunkte (Mau, Lux & Westheuser 2023) die Diskurse bestimmen. Ziel des Projekts ist es, konstruktive Umgangsformen in der schulischen Praxis auszuleuchten, insbesondere vor dem Hintergrund der multiplen, mit den Kontroversen verbundenen Problemzusammenhängen. In islambezogenen Kontroversen werden Stereotype, diskriminierende Narrative und Rassismen produziert und reproduziert und bieten eine Gelegenheitsstruktur für die politische Agitation islamistischer und völkisch nationalistischer Gruppen (Kiefer & Mücke 2023). Dennoch ist die Präsenz von Kontroversen an Schulen auch ein Indikator für gelungene Integration und Demokratisierungsprozesse (Pickel & Pickel 2023), sofern diese auf einen Partizipations- und Gestaltungswillen hinweisen.
Forschungsfragen
- Welche Diskursorganisationen lassen sich in Diskussionen von alltagspraktischen Dilemmata bezüglich des Themas Islam im Kontext Schule rekonstruieren?
- Welche Reflexionsformen lassen sich in den Dilemma-Diskussionen dokumentieren?
Methodik
Für seine Zielsetzung entwickelte das Projektteam eine hybride Erhebungsmethode der Kontroversitätsdiskussion (statusgruppenheterogen: Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern), in der das problemzentrierte Interview (Witzel) mit der Methode der Gruppendiskussion (Bohnsack) kombiniert wird. An diese schließt eine Woche später eine statushomogene Gruppendiskussion an, in der die Teilnehmer:innen ihre Wahrnehmung der Kontroversitätsdiskussion und des Schulalltags diskutieren. Es wurden insgesamt an vier Schulen 23 Gruppendiskussionen (n=76) geführt.
Die Auswertung erfolgt in Referenz zur dokumentarischen Methode hinsichtlich der Diskursorganisationen, Orientierungsrahmen und Reflexionsformen (Bohnsack 2014). Gegenstand der Rekonstruktion ist also die Art und Weise der Diskussion, der wechselseitigen Bezugnahme und den Hintergrundkonstruktionen. Aufgrund des Zuschnitts des Projekts auf Kontroversen wird diese Methode jedoch modifiziert. Statt gemeinsam geteiltes konsensuales Wissen wird geteiltes Konfliktwissen nachgezeichnet. Das Material wird in Anlehnung an die Triggerpunktstudie von Mau, Westheuser und Lux (2023) danach befragt, an welchen Chiffren und Triggerpunkte Kontroversen entstehen und wie diese verlaufen. Auf diese Weise sollen islambezogene Kontroversen dokumentiert und deren Verlaufsformen als Kontroversitätsperformanzen typisiert werden.
Ausblick
Aufgrund der bisherigen Interpretationen können differente Typen der diskursiven Hervorbringung von Kontroversität (Kontroversitätsperformanz) rekonstruiert werden, die derzeitig konkretisiert und mit Reflexionsformen und Diskursorganisationen dimensioniert werden. Hierbei lassen sich grob drei Kontroversitätstypen - die der diskursiven Bearbeitung, des diskursiven Containments und des diskursiven Widerstands - bei allen Akteursgruppen (Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern) unterscheiden, die sich wiederum in verschiedene Subtypen einteilen lassen. Bei allen Typen zeigen sich potenziell problematische Kulturalisierungsformen oder klassizistische Verständigungsversuche (Karakaşoğlu & Wojciechowicz 2017), in denen problematische Verhaltensweisen anhand sozio-ökonomische Differenzen erklärt werden. Der Typus „Diskursiver Widerstand“ sticht jedoch besonders heraus, weil diesem eine Otheringstruktur konstitutiv ist (z.B. Islam vs. Europa) und dieser Typus auf einer gefestigten und selbstreferentiellen Wir-Ihr-Anderen-Ordnung (UEM 2023) basiert. Allen Typen sind Professionalisierungsfragen immanent, der letzte Typus dürfte speziell vor dem Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen von besonderer Bedeutung sein.
Zudem konnten wir eine Reihe für den Islamdiskurs typische Triggerpunkte (Mau et al. 2023) erfassen – Kopftuch, Gebet, Gewalt – aber auch weitere Chiffren als Auslöser für Kontroversen herausarbeiten. Auffällig ist mit Blick auf den Nahostkonflikt die diskursive Funktion der Chiffre „Juden“. Jüdisches Leben wurde ausgehend von differenten Diskurspositionen und positionierte Teilnehmenden u.a. dafür instrumentalisiert, Ungleichbehandlung zwischen muslimischen und jüdischen Lebensformen zu problematisieren, Antisemitismus bei muslimischen Schüler:innen anzusprechen und damit Normalitätsbrüche sowie Verhaltenszumutungen aufzurufen. Erstaunlich ist, dass dies nicht notwendig ausgesprochen werden musste, sondern dieses Deutungsmuster ein geteiltes implizites Wissen darstellt. Bei dieser Chiffre lassen sich u.a. Polarisierungseffekte und Wechselwirkungen von (sich radikalisierenden) Diskurspositionen nachzeichnen, wie aber auch bei der Frage nach Geschlechtlichkeit. Ferner sind wir auf Triggerpunkte gestoßen, die spezifisch religiös konnotiert sind und bei denen theologische Argumente eine signifikante Rolle spielen, z. B. Bilderverbot. Diesbezüglich arbeiten wir projektübergreifend an einer Konflikttheorie in Bezug auf Sakralität und Sakralitätsverletzung.
Das Projekt wird beratend begleitet durch unsere Projektpartner*innen Beatrix Austin (Berghof Foundation – Berlin), Prof. Dr. Krassimir Stojanov (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), PD Dr. Thomas Geier (Technische Universität Dortmund), Prof. Dr. Paul Mecheril (Universität Bielefeld), Prof. Dr. Stefan Malthaner (Hamburger Institut für Sozialforschung) und Prof. Dr. Karim Fereidooni (Ruhr-Universität Bochum).
Publikationen
Zulaica Y Mugica, Miguel, & Wigger, Lothar (2024). Politische Bekenntnisse und kritische Wissenschaft: Zum Verhältnis von Rassismuskritik und wissenschaftlicher Kritik. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 100(3), 354–373. https://doi.org/10.30965/25890581-10003006
Zulaica Y Mugica, M., Jesse, L. & Aydogan, M. (2025 i.E.). »Islam« in the controversy. Religionspädagogische Beiträge. Journal for Religion in Education.
Zulaica Y Mugica, M., Jesse, L., & Aydogan, M. (2025 i.E.). Kontroversen und ihre Ambivalenzen für die Demokratiebildung. In Matthias Busch & Michell Dittgen (Hrsg.), Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe in der Lehrer:innenbildung. Frankfurt/M: Wochenschau.
Öffentlichkeit
ufuq.de, Zulaica Y Mugica, M. (2023). „Schule ist ein symbolischer Raum, an dem Kontroversen ihre Berechtigung haben“ – Einblicke in das Forschungsprojekt „Der Islam in der Kontroverse“ [online] https://www.ufuq.de/aktuelles/schule-kontroverse-islam/ [abgerufen am 28.11.2024]
y-nachten, Zulaica Y Mugica, M., Jesse, L., Aydogan, M. (2024). Religionsbezogene Kontroversen in der schulischen Bildung. [online] https://y-nachten.de/2024/10/religionsbezogene-kontroversen-in-der-schulischen-bildung/ [abgerufen am 28.11.2024]
Zulaica Y Mugica, M., Jesse, L. & Aydogan, M. (2024). „Der Islam“ in der Kontroverse - Erfolgreicher Fortbildungstag an Essener Gesamtschule. [online] https://iaeb.ep.tu-dortmund.de/meldung/der-islam-in-der-kontroverse-erfolgreicher-fortbildungstag-an-essener-gesamtschule-47807/ [abgerufen am 28.11.2024]
Literaturangaben
Bohnsack, R. (2014): Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in qualitative Methoden. 9., überarb. und erw. Aufl. Opladen Toronto: Budrich.
Bossong, C./Dipçin, D./Marquardt, P. A./Schellenberg, F./Drerup, J. (2022): Islamismusprävention in pädagogischen Handlungsfeldern: rassismuskritische Perspektiven. Bonn.
Karakaşoğlu, Y./Wojciechowicz, A. A. (2017): Muslim_innen als Bedrohungsfigur für die Schule – Die Bedeutung des antimuslimischen Rassismus im pädagogischen Setting der Lehramtsausbildung. In: Fereidooni, K./El, M. (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden, S. 507-528.
Kiefer, M./Mücke, M. (2023): Radikalisierung und Co-Radikalisierung in islamistischen Kontexten. In: Pickel, S./Pickel, G./Decker, O./ Fritsche, I./Kiefer, M./Lütze, F. M./Spielhaus, R./Uslucan, H.-H. (Hg.): Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen für Radikalisierung und Co-Radikalisierung, Politik und Religion. Wiesbaden, S. 75-102.
Mau, S./Lux, T./Westheuser, L. (2023). Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin.
Pickel, G./Pickel, S. (2023): From Prejudice to Polarization and Rejection of Democracy: Attitudes to Social Plurality as the Litmus Test of a Democratic Political Culture. In: Analyse & Kritik 45/1, S. 55-84.
Przyborski, A. (2004): Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden.
UEM (2023): Muslimfeindlichkeit - Eine deutsche Bilanz. Paderborn. 2023.; Karakaşoğlu, Y. (2020): Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen: Anforderungen an die religious literacy von schulischen Akteur*innen im Spannungsfeld von Geschlecht, Religion und Bildung, in: Kulaçatan, M., Behr, H.H. (Eds.), Migration, Religion, Gender Und Bildung. Bielefeld, S. 83–106.
Zulaica Y Mugica, M./Wigger, L. (2024): Politische Bekenntnisse und kritische Wissenschaft: Zum Verhältnis von Rassismuskritik und wissenschaftlicher Kritik. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 100/3, S. 354-373.
Kontakt: dilemmadiskussion.fk12tu-dortmundde
https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/neusser-schulen-islamismus-100.html